Dies Domini – Fest Taufe des Herrn, Lesejahr A
Jahresrückblicke jedweden Genres eignet häufig die Dynamik von Diaabenden, mit denen in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts völlig neue Dimensionen des Phänomens der Langeweile erschlossen wurden. Man führte den eingeladenen Gästen meist die Fotos des letzten Urlaubs vor, Erinnerungen bestenfalls von Wert für diejenigen, die selbst dabei waren, deren wirkliche Tiefe aber durch das Betrachten laienhafter Knipsereien meist nicht wirklich reaktiviert wurden; für diejenigen aber, die das Erleben des blaustichig Konservierten nicht teilten meist nur eine Prüfung in Demut und Geduld in der Gewissheit, dass auch der längste Dia-Abend sein Ende finden wird. Diaabende, das war kultivierte Langeweile, die die Kreativität beflügelten, Ausreden zu finden, man auf entsprechende Einladungen entgegnen konnte.
Jahresrückblicke teilen das Schicksal postmoderner Diaabende – meist aber in didaktisch reziproker Weise. Während der Dia-Abend meist das Lob vergangener Erlebnisse und Heldentaten verkündete, neigen Jahresrückblicke nicht selten dazu, rückschauend Missstände und –verhältnisse aufzuführen, um dann daraus eine moralischen Apell zu formulieren. Viele gesellschaftliche und kirchliche Jahresrückblicke sahen deshalb das Jahr 2016 als Menetekel. Schockiert stellt man fest, dass zahlreiche Prominente in diesem Jahr durch das Tor des Todes in die Ewigkeit schritten – angefangen von David Bowie über Götz George, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle bis hin zu Leonhard Cohen. Die angestimmte Klage über dieses Massensterben Prominenter in den 16er Jahren lässt fragen, ob man der Ansicht war, dass Prominenten das Schicksal der Sterblichkeit ansonsten erspart geblieben war. Wahrscheinlich war auch daran wieder Merkel schuld, wie überhaupt die Bundeskanzlerin für jedes und alles Ungemach verantwortlich gemacht wurde – jedenfalls wenn man den vielen Hatern und Hasskommentatoren, die schneller tippen als denken können und darin noch Lucky Luke überlegen sind, der immerhin schneller als sein Schatten schießen kann. Auch das war ein Thema in den Jahresrückblicken: Hass und Unmut in dem, was euphemistische „soziale Netzwerke“ genannt wird. Über allem aber liegt der Schatten des feigen Mordes vom Breidscheidplatz wenige Tage vor Weihnachten, als ein extremistischer und radikalisierter Anhänger des Islam einen LKW in friedfertige und arglosen Menschen lenkte. Die Appelle ergaben sich da von selbst: Fürchtet euch nicht! rief man engelsgleich von Kanzeln, während andernorts staatstragend davon die Rede war, dass man nun Ruhe bewahren und Härte zeigen müsse.
Keine Frage, die feige Tat vom Breidscheidplatz ist noch frisch im Gedächtnis. Die Angst, heimtückisch und unbarmherzig zu jeder Zeit an jedem Ort zum Opfer selbsternannter Krieger eines Gottes zu werden, den die Attentäter als Allbarmherzigen anrufen, ist im Unterbewusstsein eingefroren und trieft von hier aus den Blick trübend in das Bewusstsein. Die jüngere Erinnerung verdrängt die älteren. Achtergewicht nennen das die Exegeten, ein Phänomen, das jede Zuschauerin und jeder Zuschauer der Tagesschau kennt. Man erinnert kurz nach den Nachrichten vielleicht noch die Topmeldung vom Anfang der Sendung, die naturgemäß einen breiten Raum einnimmt, vor allem aber den Wetterbericht vom Ende der Sendung. Die Erinnerung dessen, was dazwischenlag, fällt hingegen schon schwerer und kostet Energie. Und so bleibt von 2016 nicht in Erinnerung, dass es das Jahr war, in dem die deutsche Nationalmannschaft bei einer trotz aller Befürchtungen friedlichen Fußballeuropameisterschaft erstmals in einem Turnier die Mannschaft Italiens besiegte, dass die deutsche Handballnationalmannschaft Europameister wurde, dass man in großer wirtschaftlicher Sicherheit und Stabilität in einem Land lebt, das nach dem Global Peace Index schon seit Jahren zu den 20 friedlichsten Ländern der Welt gehört, und man selbst (hoffentlich) einen erholsamen Urlaub voller Heldentaten und Erinnerungsfotos hatte, sondern als Jahr, in dem mit der Tat von Berlin der Terror nach Deutschland kam – so wie schon im Herbst 1977, als die RAF die politische Diskussion mit dem Sprechen der Waffen zum Schweigen bringen wollte.
Aus dem Blick zurück ins Jahr wird meist ein moralischer und allgemeiner Appell formuliert. „Man“ muss und „wir alle“ sollten. Die floskelhafte Allgemeinheit ist so harmlos wie der Betroffenheit simulierende Ton der Rückschau, der empathisch einen Schrecken ins Gedächtnis ruft, der die meisten beim Betrachten medial vermittelter Bilder befällt, den postfaktischen Dias der Gegenwart, ohne dass die Allermeisten in ihrem Alltag unmittelbar von einem solchen Schrecken betroffen wären. Das ist das Gift des Konjunktivs des „es hätte mich treffen können, wenn ich um diese Zeit am Breitscheidplatz in Berlin gewesen wäre“. Viele Bedingungen und Konjunktive vertreiben den Indikativ dessen, was wirklich ist, ebenso wie der Paränese des „jetzt sollte man aber wirklich einmal dieses oder jenes tun“, die so allgemein ist, dass niemand wirklich etwas ändert. Jahresrückblicke sind eine Ausgeburt westlicher Selbstbeschau, einem wohligen Gruseln, dass es in eben diesem Westen nichts Neues gibt, eine Kultivierung der Langeweile, die die Furcht vor einer Ewigkeit als in die Unendlichkeit prolongierte Diashow des Lebens anderer.
Wie anders dagegen feiern die Juden die Jahreswende. Der in Jerusalem lebende und forschende Alttestamentler Till Magnus Steiner formuliert in einem lesenswerten Beitrag des biblischen Weblogs „Dei Verbum“ mit Blick auf die alttestamentarischen Hinweise, wie das Neujahrsfest zu begehen ist:
„Der Freudenlärm der Silvesternacht darf nicht in Stille und Angst enden. Er sollte sich in einem Lärmblasen fortsetzen, das nicht als Kommentar in den Medien endet, sondern als Gebet Hoffnung gibt für einen Neuanfang.“ (Till Magnus Steiner, Der Neujahrslärm. Der Jahresanfang im Alten Testament, 3.1.2017, Quelle: http://www.dei-verbum.de/der-neujahrslaerm/ [Stand: 7. Januar 2017])
Der Jahreswechsel ist keine Rückschau und kein Ende, sondern ein Aufbruch und Neubeginn. Rosh ha Shana heißt „Anfang des Jahres“. Der Blick geht nach vorne, in eine neue Zeit und eine neue Zukunft. Freilich kennt man die Zukunft noch nicht. Niemand verspricht, dass alles besser wird. Aber der Blick nach vorne ist offen und positiv. Das ist die eigentliche Haltung der messianischen Erwartung, wie sie auch in der ersten Lesung vom Fest „Taufe des Herrn“ im Lesejahr A verkündet wird:
Ich, der Herr, habe dich aus Gerechtigkeit gerufen, ich fasse dich an der Hand. Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt, der Bund für mein Volk und das Licht für die Völker zu sein: blinde Augen zu öffnen, Gefangene aus dem Kerker zu holen und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft zu befreien. (Jesaja 42,6f)
Der Text steckt voller Zuversicht. Er weiß um den Beistand Gottes. Er ist es, der den Menschen an der Hand fasst. Der, der die Gerechtigkeit aufrichten wird, weiß Gott an seiner Seite. Es ist seine Bestimmung Licht für die Völker und ein Zeichen des Bundes für das Volk Gottes zu sein. Der Text formuliert keine Appelle oder Visionen. Er formuliert im Indikativ. Hier wird beschrieben, was ist und nicht, was sein könnte. Es ist eine Bestimmung Gottes. Der so Bestimmte mag den Anspruch Gottes ablehnen. Dann aber würden die Verheißungen dessen, was durch sein Wirken Wirklichkeit wird, nicht werden. Erfüllt er aber seine Bestimmung, dann wird eine neue Wirklichkeit werden. Im Auftrag Gottes verkündet der Prophet, dass dann Blinde sehen, Gefangene aus dem Kerker geholt und alle, die im Dunkel sitzen, aus ihrer Haft befreit werden (vgl. Jesaja 42,7). Erscheint die Verheißung, dass Blinde sehen, noch einigermaßen unglaublich, reaktiviert die Befreiung der Gefangenen dann doch in der Gegenwart gesellschaftlich verbreitet Ängste. Ist die Befreiung von Straftätern wirklich das Ziel messianischen Wirkens?
Wohl kaum! Die Verheißung des Jesaja besteht ja aus drei Elementen. Sie folgt damit der sogenannten Regel de tri, einer rhetorisch steigernden Dreieraufzählung, bei der das Gewicht auf dem letzten Element liegt. Eben dieses Achtergewicht liegt in der jesajanischen Aussage auf der Verheißung, dass die, die im Dunkle sitzen, aus ihrer Haft befreit werden. Es ist die Haft der Depression, in der sich die Menschen befinden, einer inneren und äußeren Unfreiheit, die sich aus den selbstgemachten Zuständen ebenso ergibt wie aus den Umständen, in denen Menschen gesellschaftlich eingewoben sind. Es sind Umstände des Unfriedens, der inneren und äußeren Blindheit, in der sich die Menschen befinden. Die Zeit des Messias hingegen wird eine Zeitenwende sein, eine Überwindung der inneren und äußeren Dunkelheiten.
Das mag eine Vision sein, mit der man – frei nach Helmut Schmidt – zum Arzt gehen kann, so unwirklich und unrealistisch mutet sie an – wäre da nicht im Text ein Hinweis, wie dieses Ziel konkret erreicht werden kann. Das ist der Unterschied der jesajanischen Vision zu den Zukunftsbildern der Gegenwart, die in gesellschaftlichen und kirchlichen Stuhlkreisen wortreich ersonnen werden: Während diese meist in allgemeinen und nicht selten auch moralischen Appellen allgemein, unkonkret und meist auch folgenlos bleiben, beschreibt jener den Weg zu einem Ziel, das in seiner Idealität unerreichbar eine stete Aufgabe bleibt:
Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Völkern das Recht. Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat. Auf sein Gesetz warten die Inseln. (Jesaja 42,1-4)
Mit anderen Worten gesagt: Der von Gott Gesandte soll jede sich bietende Chance nutzen – und sei sie noch so klein und unscheinbar – um sein Werk zu vollbringen. Auch der glimmende Docht hat noch die Potenz zum wärmenden Licht zu werden. Auch im genickten Rohr steckt noch die Kraft zu neuem Leben und Treiben. Auch wenn er lärmen kann – und bisweilen vielleicht sogar muss – sind es genau diese Kleintaten, die den Fortschritt bringen. Wer große Sprünge macht, kann straucheln und vielleicht sogar abstürzen; wer sich hingegen in kleinen Schritten tastend voran wagt, wird das Ziel sicher erreichen.
Nun mag man einwenden, dass das alles ja gut und schön, man selbst aber eben nicht der Messias sei. Solche Art der Delegation, die nicht aus der Notwendigkeit arbeitsteilenden Handelns entsteht, sondern aus der Feigheit vor der eigenen Verantwortung, wird im Evangelium vom Fest „Taufe des Herrn“ im Lesejahr A begegnet. Dort heißt es:
Zu dieser Zeit kam Jesus von Galiläa an den Jordan zu Johannes, um sich von ihm taufen zu lassen. Johannes aber wollte es nicht zulassen und sagte zu ihm: Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir? Jesus antwortete ihm: Lass es nur zu! Denn nur so können wir die Gerechtigkeit (die Gott fordert) ganz erfüllen. Da gab Johannes nach. (Matthäus 3,13-15)
Der Text insinuiert, dass Johannes spürt, dass in Jesus der von ihm selbst angekündigte Messias vor ihm steht. Er ist der, von dem Matthäus ihn wenige Verse zuvor sagen lässt:
Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. (Matthäus 3,11b)
So gesehen ist es völlig nachvollziehbar, dass Johannes der Täufer einen Rückzieher machen möchte. Sein Werk scheint getan, der Messias ist an der Reihe. Seine Zeit ist gekommen.
Jesus aber interveniert. Die Einheitsübersetzung formuliert:
Lass es nur zu! (Matthäus 3,15a)
Das ist einigermaßen schwach übersetzt, denn im griechischen Urtext lautet die Antwort Jesu: ἄφες ἄρτι (gesprochen: áfes árti) – das heißt wörtlich übersetzt:
Lass es jetzt gewähren! (Matthäus 3,15a)
In dieser Antwort scheint auf, dass Johannes eine Bestimmung hat. Durch sein Handeln erst wird sich die Bestimmung Jesu offenbaren. Erst durch seine Taufe kann das folgende geschehen. Erst so wird die Offenbarung vom Himmel her auf Erden möglich:
Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe. (Matthäus 3,17)
Auch Johannes der Täufer hat eine Bestimmung, die er gewähren lassen muss. Er kann sie nicht einfach delegieren. Und diese Bestimmung muss sich jetzt erfüllen, nicht gestern, nicht morgen, sondern jetzt!
Das Fest „Taufe des Herrn“ ist ein Schwellenfest. Mit ihm schließt die weihnachtliche Festzeit und beginnt der Alltag des Jahreskreises. Der Blick aber geht deutlich nach vorne. Die kurze Perikope von der Begegnung zwischen Johannes dem Täufer und Jesus zeigt: Jeder hat seine göttliche Bestimmung. Sie ist undelegierbar und sie muss sich erfüllen: Jetzt! Wer hier nur nach hinten schaut mag angesichts des Schreckens vergangener Zeiten im Schock erstarren. Besser aber wäre es, jetzt die glimmenden Dochte zu suchen, sie sorgsam zu hüten und neu anzufachen. Selbst im Unkraut steckt Lebenskraft, die die Kultur des Todes, die die verbreiten, die das Fremde hassen, bezwingen kann. Die Freude des Neujahrslärms soll das Kriegsgeheul derer übertönen, deren Gott ein Gott des Todes zu sein scheint. Christen hingegen preisen einen Gott des Lebens, der die die ihm huldigen mit dem Heiligen Geist salbt und sie so Nachahmern des Jesus von Nazaret bestimmt, der
Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren. (Apostelgeschichte 10,38)
Seid gewiss, ihr Christen, dass ist auch eure Bestimmung – undelegierbar, hier und jetzt! Denn Gott ist auch mit euch.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.